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Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Wiesbaden / Rheingau Taunus e.V.

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ADFC Wiesbaden / Rheingau-Taunus e.V.

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Von: Lukas Fleckenstein am 29. März 2024
Schlagworte: Politik & Verkehr

Gedenken an Natenom

Der Tod von Natenom aka Andreas Mandalka hat viele von uns sehr bewegt, denn es kommt immer wieder zu gefährlichen Situationen im Straßenverkehr, mit denen wir alle irgendwie umgehen müssen. Wir haben zwei Texte erhalten und haben uns dazu entschieden, diesen hier Raum zu geben.

natenom

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Der Wert unserer Leben, zum Tod von Natenom

Offener Brief

In den vergangenen Wochen beschäftigte uns der tragische Tod von ADFC-Mitglied Andreas Mandalka (Baden-Württemberg), der unter dem Pseudonym „Natenom“ bundesweit bekannt war. Per Kurzvideos machte er auf die Gefährdung der Radfahrenden durch Fahrzeugführer auf Landstraßen aufmerksam und erreichte mit seinen Tweets viele Follower. Man schaute sich seine Tweets mit stockendem Atem an und nicht wenige sorgten sich um sein Leben, denn die Landstraßen, die er befuhr, waren häufig schmal und kurvig. Was können wir als ADFC-Aktive nur tun, um unsere Mitglieder noch besser zu schützen?

Viele von uns RadlerInnen geraten täglich in riskante Situationen und erfahren, was Natenom so häufig aufgezeichnet und publiziert hat: Gefährdungen, Gewalt, Beleidigungen, Ignoranz. Genau in diesen Momenten sind „wir alle Natenom“ und fühlen uns ihm nah.

Natenom war bereit, sein Leben, seine Freude am Radfahren, seine Menschlichkeit gegen die Gleichgültigkeit der Behörden und den Hass von Autofahrenden einzusetzen. Die Mitglieder des ADFC gedenken seiner mit Liebe und Respekt. Doch wird auch betrauert, dass er erst sterben musste, um mit seinen Themen bundesweit in allen Medien gewürdigt zu werden, dass erst jetzt Polizei und Staatsanwaltschaft nicht mehr umhin können, sich mit der motorisierten Gewalt auf seiner Fahrtstrecke zu beschäftigen.

Seelisch zerrt an vielen von uns Fahrradfahrenden der Widerspruch zwischen unseren Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit, saubere Luft und fossilfreie Mobilität einerseits und der tagtäglichen Autohölle andererseits. Technisch wäre es so einfach, bundesweite Geschwindigkeitslimits (30/80/100: Innerorts/Landstraße/Autobahn) umzusetzen, doch politisch wurde dies in Deutschland stets verhindert. Selbst winzige Änderungen des Straßenverkehrsgesetzes ließ man am 24.11.2023 im Bundesrat scheitern. Negativ allen voran positionierten sich die Länderchefs von Bayern, Hessen und NRW, die gegen den Schutz von Fußgängern und Radfahrenden stimmten. Unverständlich, wieso Baden-Württemberg sich bei dieser Abstimmung enthielt. Allein in Hessen sterben jeden Monat etwa 2 Fahrradfahrende. Wie viele Menschen wären noch am Leben, wenn wir ein anderes Straßenverkehrsrecht hätten und das Radwegenetz besser ausgebaut wäre?

In verzweifelt-wütenden Momenten, wenn wir fühlen, dass wir vor die Mauern fossiler Ignoranz fahren, kann in uns die einsame Bereitschaft entstehen, diesen Widerspruch mit unseren Knochen zu überbrücken. Es kann dann passieren, dass wir unterwegs Risiken in Kauf nehmen, die vielleicht vermeidbar wären, würden wir unser Überleben stets als höchstes Gut betrachten.

Es ist für den ADFC unabdingbar, bei Aktionen für die Verkehrswende nur Strategien zu nutzen, die auch die Sicherheit der Fahrradfahrenden achten. Lasst uns auch aufmerksam bleiben, für diejenigen, die allein auf dem Rad ihr Leben riskieren und versuchen, sie zu schützen. Und machen wir weiterhin klar, dass wir von allen Landesregierungen und Stadtparlamenten erwarten, dass sie sich für fahrradfreundliche Mobilität und „Vision Zero“ einsetzen.

C. W., AG Radpolitik, ADFC Wiesbaden/RTK

Vom Glück, wenn Carfreitag & Ostern wundersam zusammenfallen

Die Unfallgeschichte von Dr. Bernd W. Kubbig, Wiesbaden

Zur Erinnerung an Andreas Mandalka, der am 30. Januar 2024 seinen Carfreitag hatte, leider nicht gefolgt von Ostern. Er und sein Anliegen sollen unvergessen sein.

„Wie schön, dass Sie uns nach Ihrer Weihnachtsgeschichte eine Folgeerzählung anbieten. Osterwoche macht sich gut, nicht immer nur Katastrophen. Was wir brauchen, sind ‚Ende gut, alles gut-Stories‘. Fakten sind Trumpf. Sie wissen ja: Ohne Heimatbezug ist alles nix bei maximal – maximal! – 14.000 Zeichen und ein paar zerquetschten.“
Meine Heimat kam in der Erstfassung nicht vor, na ja, bis auf meinen Bruder Claus, der, obwohl wie an Ketten auf dem Sterbebett gefesselt, die Welt noch einmal missionierend retten wollte. Aber seine Geschichte ging am 16. Juni 2021 nicht gut aus (keine ersichtliche Oster-Hoffnung). Und aus meiner Unfallgeschichte, die ich danach mit Wiesbaden als aktuellem Unfallort anbot, hatte sich indes die Heimat völlig ferngehalten, aus Gründen großer innerer Abwehr, die sich mir erst allmählich offenbarten. Also: Umschreiben, die Reaktion aus der Redaktion brachte mich auf den Schwitz.

Eines schönen Herbstages (Montag, der 9. 10. 2023) war ich nach Mittag mit meinem frisch reparierten Stadtfahrrad auf der Heimfahrt aus WI-Biebrich. Mein Boule-Bruder Alexander hatte zudem letzte Hand an meinen prächtigen Bauchladen mit der Aufschrift „Der spie Gel!“ angelegt, den ich für Handzettel zu meinem gleichnamigen Drama – ein Stück prall von Heimat – im Rahmen der bevorstehenden Frankfurter Buchmesse einsetzen wollte.
Der Himmel war blau, und die Vöglein sangen, dass es, obwohl ich zu dieser Tageszeit leicht angemüdet war, seine Art hatte. Kurz gezögert, dann linksseitig stadteinwärts gefahren, anstatt die riesige Biebricher Allee zu überqueren. Rechts wie links war der Fahrradweg vorbildlich ausgebaut. Hier galten die berechtigt kritischen Slogans „WI – das wilde Kurdistan für F-Fahrer“ und „Lieber Kamelreiten in WI als aufs Zweirad steigen“ nicht.
Strampel, Strampel, Strampel – kurz vor der Kuppe sah ich einen silbergrauen Kleinwagen von links aus einer kleinen Seitenstraße herauskommen und kurz anhalten. In meiner – natürlich vorschriftsmäßig gelbgleißenden Sicherheitsmontur (Helm wie Weste) – war ich nicht zu übersehen. Warum also mein Tempo drosseln und übermäßig vorsichtig sein, wo sich doch die Steigung endlich abflachte. Ein vernünftiger Fahrer sieht auch nach rechts.
Aber der Kleinwagenfahrer sah nicht nach rechts zu mir. Er fuhr los. Und er fuhr mich an. Das Hartgummi der Stoßstange stieß an mein linkes Schienenbein. Im Nu kippte ich durch den Aufprall nach rechts rüber auf den harten Boden.

„Teufel noch eins, warum fahren Sie mich um?“, schrie ich den Fahrer wütend an. Um ein Haar, und Sie hätten mein linkes Bein zerquetscht und mich totgefahren, Sie Schengel, Sie (hatte ich das wirklich in plötzlich kindlicher Tonlage zu ihm gesagt: Schengel?). „Ich habe einfach nicht nach rechts gesehen!“ sagte der Fahrer durch sein halb herunter gekurbeltes Seitenfenster. Inzwischen hatte ich mich hochgerappelt, samt Fahrrad mit den schweren Taschen.
„Alles in Ordnung?“ Benommen stand ich da. Aussteigen tat er nicht, sondern verhielt sich nach der britischen Art ‚My car is my castle.‘ „Alles in Ordnung?“, wiederholte der PKW-Fahrer ungeduldig. „Warum fahren Sie nicht weiter?“ Er hatte es wohl sehr eilig. Lästiger F-fahrer. Ich atmete erst einmal tief durch. Langsam kam ich zu mir. „Weil ich Ihr Fahrkennzeichen sehen will, nachdem Sie rechts eingebogen sind.“ Der Fahrer fuhr los: „RÜD-YA 611“. Und ich, leicht unter Schock, fuhr vorsichtig weiter und kam zu Haus unversehrt mit leichtem Kopfschmerz gut an. Was will ich als Erzähler mehr: Auf-ge-stan-den war ich. Carfreitag & Ostern in eins. Und das mit weniger als 4.000 Zeichen. Halleluja!

Aber es ging ja weiter! Nach meinem klaftertiefen Erholungsschlaf berichtete ich meiner Frau von meinem Umfall, auch vom anhaltenden leichten Kopfschmerz. Sie riet mir dringend, die Polizei wegen möglicher Langzeitfolgen mit Blick auf einen Versicherungsschutz zu kontaktieren. Ich skizzierte den Vorfall am Telefon. „Der Mann hat eindeutig Fahrerflucht begangen“, so die aufgebrachte Polizeistimme. „Er hätte aussteigen und mit Ihnen die Koordinaten austauschen müssen. Haben Sie wenigstens das Autokennzeichen?“ Ich: „Klar, RÜD-YA 611.“ Die Stimme: „Sie kommen unverzüglich ins Revier oder zwei Kollegen sind in 20 Minuten bei Ihnen.“ Ich: „Besser, Sie lassen sie zu uns kommen, ich fühle mich nicht fit.“ Zwei freundliche Polizisten waren in Windeseile da, nahmen im Beisein meiner Frau das Protokoll fachlich-sachlich auf, relativierten die Fahrerfluchtthese ihrer Kollegin, informierten mich über meine Rechte im Rahmen des Strafantrages. Das Kfz-Kennzeichen „RÜD-YA 611“ teilte ich den beiden Beamten mit. Ich entschied mich dafür, den Strafantrag wegen „Fahrlässiger Körperverletzung gem. § 223, 229 StGB“ nur dann zu stellen, wenn gesundheitliche Folgen dies notwendig machten. Den PKW-Fahrer wollte ich mir vorknöpfen, um ihm eine geharnischte Lektion zu erteilen. Die beiden Polizisten ermittelten anschließend den mir nicht bekannten Namen der Seitenstraße, aus der der PKW gekommen war; sie wollten herauszufinden, ob der Fahrer meinen Radfahrweg auch noch regelwidrig (falsche Richtung) gekreuzt hatte (hatte er nicht). Ich selbst war zwar auf dem linksseitigen Fahrradweg gefahren, aber die dort angebrachten Pfeile machten ja deutlich, dass dies rechtens war. Damit war ich aus dem Schneider. An diesem Punkt, alles Paletti, klare Schuldzuweisung. Zeit, mit der Geschichte bei weit unter 6.000 Zeichen aufzuhören.

Doch zwei Tage später (Mittwoch, 11. 10.) stand mein Fall in der hiesigen Lokalzeitung „Wiesbadener Kurier“ in der Rubrik „Blaulicht“ unter der Überschrift „Autofahrer wird gesucht“. Hierbei handelt es sich um die verknappte Wiedergabe des im Internet zugänglichen, mit Symbolbild eines Fahrradunfalls zusätzlich groß aufgemachten Textes vom Vortag; gezeichnet war er mit „PM PP Westhessen“. Von wegen „Fakten sind Trumpf“! Korrekte Angaben mischten sich mit haarsträubend falschen Tatsachen. Beide Berichte gipfelten in der Bitte der Polizei, der Fahrer möge sich bei ihr melden. Dabei war das Autokennzeichen der Polizei doch bekannt. Und: Was sollte den Fahrer motivieren, sich zu melden? Ich würde den Fahrer sowieso ausfindig machen, um ihm auf den Zahn zu fühlen – mir kam der nicht davon.
Das Ganze ließ ich erst einmal auf sich beruhen, da mein Kopfschmerz abklang. Vor allem hatte ich leiblich unversehrt aufstehen können. Ein passables Ende bei nicht entfernt 7.000 Zeichen, wenn nicht eine Woche später im Rahmen der Frankfurter Buchmesse das „Open Books Programm“ begonnen hätte. Vier Tage lang stellen Autoren leibhaftig mit ihren Verlagslektoren oder gar dem Verleger ihre neuen Bücher einem neugierigen Publikum vor. Endlich, Gelegenheit für mich zum gezielten Verteilen meiner Handzettel aus dem unversehrten, „Der spie Gel!“- Bauchladen. Gezielt hatte ich den Verleger Joachim Unseld ausgesucht, um ihm auf mein Schauspiel aufmerksam zu machen, für das ich einen Verlag suchte und das ich so gern vor der passenden Kulisse der Stiftskirche aufgeführt sähe. Der Verleger war jedoch vor der Veranstaltung für meine Kontaktaufnahme ganz und gar nicht empfänglich. Sein Augenmerk galt einzig und allein seiner Autorin, einer Brigitte Giraud, deren Buch „Schnell leben“ er im übervoll besetzen Großen Saal der Evangelischen Akademie Frankfurt am Mittwoch (18. 10., 18.30 Uhr) gleich selbst glanzvoll vorstellen würde. Leichtes Spiel bei dem großen Andrang: Brigitte Giraud war die Goncourt-Preisträgerin von 2022, der höchsten literarischen Ehrung Frankreichs. Bei meiner ersten Kontaktaufnahme wandte mir Unseld demonstrativ den Rücken zu, beim zweiten Mal konnte ich ihm mit einem Wort des Dankes meinen „Der spie Gel!“-Handzettel für mein Stück, das inhaltlich an meine Heimat gelkettet ist, überreichen. Mission erfüllt. Um mich aufzuwärmen, nahm ich als Zaungast links vom Eingang auf den breiten evangelischen Fensterbänken Platz.

Wider Erwarten blieb ich. Denn Brigitte Girauds Roman handelt vom Motorradunfall ihres Mannes. Anders als bei mir war Ostern bei Claude nicht auf Carfreitag gefolgt, geschweige denn, dass Carfreitag & Ostern zusammengefallen waren. Entscheidend: Er hat nie mehr aufstehen können, auch wenn ein entgegenkommendes Auto bei seinem Unfall ausdrücklich keine Rolle spielte. Nach 20 Jahren versuchte die Autorin in 23 „Hätte-hätte-Motorradkette“-Kapiteln Claudes Tod zu bewältigen.
Beim Büchertisch nebenan erstand ich rasch ein Exemplar, das ich von der gekrönten Brigitte signieren ließ. In meinem bei Maître Werner Reinhard solide erlernten Schulfranzösisch berichtete ich ihr von meinem Unfall neun Tage vorher. Der Unterschied ums Ganze zu Claude stand leibhaftig vor ihr. Mit weicher Stimme sagte sie einfühlsam zu mir: „Soyez prudent!“ Dieses „Seien Sie vorsichtig!“ nahm ich an wie eine Art Segen an, um mich zu behüten auf all meinen Wegen. Und Brigitte adoptierte ich als eine Art verspäteten Schutzengel, obgleich ich wette, dass sie diese Rolle wie auch den Segen als abergläubische Kaspereien abgelehnt hätte.
Ihr strikt säkularer Roman überzeugte mich weder inhaltlich noch literarisch – die wenigen vermeidbaren Druckfehler und ärgerlichen Gallizismen wie etwa ‚sein Telefon konsultieren‘ S. 185) beiseitegelassen. Als Lebenshilfe für Brigitte – OK, aber für mich hatte sie ihr Thema mit ihrem „Hätte-hätte-Motorradkette“-Ansatz verfehlt. Denn Claude hätte auch am nächsten oder am übernächsten Tag unter völlig anderen Bedingungen sterben können. Gemäß seines Prinzips „Schnell leben“ hatte er ein Motorrad „hochbeschleunigt, das nicht seines war“ (S. 9), das „sich in ungewollter Weise aufbäumte“ (schlechtes Deutsch) und den „Piloten (?) abwarf“ (S. 193).
Und doch setzte der Roman bei mir ein inneres Karussell von verschütteten Gefühlen und Gedanken in Gang. Die Sekunden vor meinem eigenen Unfall kamen mir anders – wenn auch störend – zu Bewusstsein: eine Kampfsituation mit dem PKW-Fahrer, David gegen Goliath, mein insgeheimer Stinkefinger, meine „Mir-gehört-die-Welt“-Vorfahrtshaltung, gepaart mit Vertrauensseligkeit: Der rational agierende Fahrer lässt mich schon vorbei. Zeitgleich war mir mulmig: Und wenn er nicht in meine Richtung sah? Bums! Ich hätte absteigen müssen! Wäre ich doch bereits unter Brigittes Segen gewesen. Täter und Opfer verschwammen. – Optimale Zeichenzahl (incl. der paar zerquetschten), aber alles in Frage gestellt. Perfektes Ende. Hiervon unberührt blieb mein Vorhaben, den Fahrer von „RÜD-AY-611“ ausfindig zu machen, und sei es verbissen wie Heinz Rühmann in „Es geschah am hellichten Tag“.

Ich hätte hier aufgehört, wenn es den geforderten Heimatbezug nicht gegeben hätte. Die Heberbörde mit dem Tatort Gehrenrode rückt mir unangenehm auf die Pelle, ich hätte dies gern ausgespart, denn was jetzt kommt, verstößt für bange, bange Augenblicke gegen das Prinzip „heile Heimat“.
„Schreiben, das heißt an den Ort geführt zu werden, den man gerne vermeiden möchte.“ Wie unwahr dieses Motto für mich ist, das Brigitte Giraud ihrem Roman vorangestellt hat! Denn da ist eine Begebenheit, von der ich meinte, sie stoisch abgehakt zu haben. Es geht (wohl im Jahr des Herrn 1960) um einen höchst aufgeweckten Viertklässler auf seinem Fahrrad, der eines schönen Frühsommertages (der Himmel war blau, und die Vöglein sangen, dass es für ihn seine Art hatte) die Hauptstraße hinter der Volksschule und schräg gegenüber dem Pfarrhaus überquerte, also in einer völlig unübersichtlichen – und allbekannt höchst gefährlichen – Lage, denn er konnte diese sogenannte Heerstraße nicht einsehen, weil ihm das gerade von links vorbeigefahrene Heufuder von Bürgermeister Wilhelm Bock die Sicht versperrte und er von seinem Fahrrad hätte absteigen müssen, was er aber nicht tat („wie Kinder eben so sind“), und deshalb mit dem von rechts heranbrausenden, blassgelben DRK-Kranken- und Rettungswagen zusammengeprallt wäre – wenn der Fahrer dieses Autos nicht der weithin bekannte wie äußerst erfahrene Herr Severitt gewesen wäre, der mich anbrüllte mit Worten wie „Junge, Junge, ich hätte dich tot fahren können!“ Und ich, nicht zerquetscht, unversehrt – ja, unberührt – leichenblass und voller Höllenängste (soweit mir erinnerlich): „Du bist mein Schengel, Onkel Severitt.“ Ein neues Wort war geboren, das Pastor Enge in seiner Predigt am Sonntag drauf ganz aussprach, als er seinen Schutzengel anders verortete, was mir einerlei war und ist.
Denn ich musste nicht auf-ste-hen, Carfreitag (das Wort ’car‘ kannte ich übrigens als Volksschüler noch nicht, ich lernte es erst ein Jahr später auf der Mittelschule) & Ostern waren wieder einmal wunderbar zusammengefallen. Zweimal Überlebens-Glück innerhalb von gut 63 Jahren. „Heile Heimat“, so gesehen.
Zu Hause gab es keine Tracht Prügel, dafür in unserer kirchenfrommen Familie eher Dankgebete hinter meinem Rücken, von mir bestimmt auch welche. Meinem Schengel bin ich in den 1960er Jahren noch einige Male begegnet. Seinem geistesgegenwärtigen Tritt auf die Bremse verdanke ich mein Leben. Nix „Hätte-hätte-Fahrradkette!“ Auch der „RÜD-YA 611“-Fahrer hatte ja zum Glück spontan auf die Bremse getreten und nicht versehentlich auf das Gaspedal. Es hätte schlimmer kommen können. Deshalb entschied ich mich, diesen Schengel, den ich im Zustand klammheimlicher Vorfreude mit leichtem Schaum vor dem Mund aufspüren und mächtig auf den Zahn fühlen wollte, nicht zu belangen – und mir selbst Lektionen zu erteilen, also vorsichtig sein. Und im Zweifelsfalle absteigen sowie inständigst hoffen, dass der Schutzengel möglichst umfassend und gerecht auftritt, aber das im Rahmen auszubauender Schutzräume, die nicht vom Himmel fallen.